Leseprobe
 
Quelle: "Der Gottmensch" Band X, von Maria Valtorta (Parvis Verlag)
               © by Centro Editoriale Valtortiano srl. - www.mariavaltorta.com

Der Text der Evangelienstelle ist im Gesamttext des Kapitels harmonisch wiedergegeben.
Die entsprechenden Abschnitte sind farblich markiert: (Joh 11,17-44)

602. DIE AUFERWECKUNG DES LAZARUS

Jesus kommt von Ensemes nach Bethanien. Sie müssen einen äußerst anstrengenden Weg zurückgelegt haben über die halsbrecherischen Pfade der Adummimberge. Die atemlosen Apostel haben Mühe, Jesus zu folgen, der so rasch dahinschreitet, als ob die Liebe ihn auf ihren feurigen Schwingen tragen würde. Ein strahlendes Lächeln liegt auf seinem Antlitz, während er allen mit erhobenem Haupt unter den Strahlen der warmen Mittagssonne vorangeht.

Noch bevor sie die ersten Häuser von Bethanien erreicht haben, sieht ihn ein barfüßiger Junge, der mit einer leeren Kupferkanne zum Brunnen geht. Er schreit auf, stellt die Kanne auf den Boden und rennt davon, so schnell ihn die Beine tragen, hinein ins Dorf.

«Gewiß wird er ankündigen, daß du kommst», bemerkt Judas Thaddäus, nachdem er wie die anderen über den energischen Entschluß des Jungen gelächelt hat, der sogar seinen Krug zurückläßt als Beute für den Nächstbesten, der vorbeikommt.

Vom Brunnen aus, der etwas erhöht liegt, sieht die Ortschaft ruhig und wie verlassen aus. Nur der graue Rauch, der aus den Kaminen aufsteigt, zeigt an, daß in den Häusern die Frauen damit beschäftigt sind, das Mittagsmahl zuzubereiten, und einige laute Männerstimmen, die aus den weiten, stillen Olivenhainen und Obstgärten dringen, lassen erkennen, daß die Männer bei der Arbeit sind. Dennoch zieht Jesus es vor, einen schmalen Weg einzuschlagen, der hinter dem Ort vorbeiführt, um das Haus des Lazarus zu erreichen, ohne die Aufmerksamkeit der Bewohner zu erregen.

Sie sind ungefähr auf halbem Weg, als sie hinter sich den Jungen von zuvor hören, der sie eilig überholt und sich dann in die Mitte der Straße stellt und Jesus nachdenklich ansieht.

«Der Friede sei mit dir, kleiner Markus. Hast du Angst vor mir gehabt, daß du geflüchtet bist?» fragt Jesus und streichelt ihn.

«Ich? Nein, Herr, ich habe keine Angst gehabt. Aber da Martha und Maria seit mehreren Tagen Diener auf die Straßen schicken, die Ausschau nach dir halten sollen, bin ich losgerannt, sowie ich dich gesehen habe, um ihnen zu sagen, daß du kommst...»

«Das hast du gut gemacht. Die Schwestern werden ihre Herzen auf meine Ankunft vorbereiten.»

«Nein, Herr. Die Schwestern werden sich nicht vorbereiten, denn sie wissen von nichts. Man hat mir nicht erlaubt, es ihnen zu sagen. Man hat mich beim Betreten des Gartens gepackt, als ich sagte: "Der Rabbi ist da." Und man hat mich hinausgejagt mit den Worten: "Du bist ein Lügner oder ein Dummkopf. Er kommt nicht mehr, denn jetzt ist es gewiß, daß er kein Wunder mehr wirken kann?" Und weil ich gesagt habe, daß du es wirklich bist, haben sie mir zwei Ohrfeigen gegeben, wie ich noch nie welche bekommen habe... Sieh nur meine roten Backen. Sie brennen! Und sie haben mich hinausgeschoben und gesagt: "Dies ist zu deiner Reinigung, weil du einen Teufel gesehen hast." Und ich habe dich jetzt genau angeschaut, um zu sehen, ob du ein Teufel geworden bist. Aber ich merke nichts davon... Du bist immer noch mein Jesus und schön wie die Engel, von denen Mama mir erzählt.»

Jesus beugt sich nieder, um die geschlagenen Wangen zu küssen, und sagt: «So vergeht das Brennen. Es tut mir leid, daß du meinetwegen leiden mußtest.»

«Es macht nichts, Herr, denn die Ohrfeigen haben mir zwei Küsse von dir eingebracht.» Und der Junge hängt sich an Jesus in der Hoffnung auf weitere Liebkosungen.

«Sag einmal, Markus! Wer ist es, der dich fortgejagt hat? Die Leute des Lazarus?» fragt Thaddäus.

«Nein, die Juden. Sie kommen alle Tage, um ihr Beileid zu bezeigen. Es sind so viele! Sie sind im Haus und im Garten, kommen früh und gehen spät und tun so, als ob sie die Herren des Hauses wären. Sie mißhandeln alle. Siehst du, niemand traut sich mehr auf die Straße. Die ersten Tage kamen die Leute und schauten... aber dann... Nun gehen nur noch wir Kinder hinaus, um... Oh, mein Krug! Die Mama wartet auf das Wasser... Nun wird auch sie mich schlagen... !»

Alle lächeln über seine Sorge wegen der voraussichtlichen weiteren Ohrfeigen, und Jesus sagt: «Also, dann geh schnell... »

«Aber... ich wollte mit dir hineingehen und dich das Wunder wirken sehen...» Und er fügt hinzu. «Ich wollte ihre Gesichter sehen... um mich für die Ohrfeigen zu rächen...»

«Das nicht. Du darfst nicht rachsüchtig sein. Du mußt brav sein und verzeihen können... Aber die Mama wartet auf das Wasser ...»

«Ich werde an seiner Stelle gehen, Meister. Ich weiß, wo Markus wohnt, und ich werde der Mutter alles erklären und dann zurückkommen...» sagt Jakobus des Zebedäus und läuft fort.

Sie setzen langsam ihren Weg fort, und Jesus hält den jubelnden Knaben an der Hand...

Nun sind sie am Gitter des Gartens und gehen daran entlang. Viele Reittiere sind dort angebunden und werden von den Dienern der jeweiligen Eigentümer bewacht. Das Flüstern, das bei ihrer Ankunft einsetzt, zieht die Aufmerksamkeit einiger Juden auf sich. Und sie wenden sich genau in dem Augenblick dem geöffneten Tor zu, als Jesus den Garten betritt.

«Der Meister!» sagen die ersten, die ihn sehen, und das Wort eilt wie das Rauschen des Windes von Gruppe zu Gruppe und breitet sich aus wie eine Woge, die von weither kommt und am Ufer zerschellt, bis zu den Mauern des Hauses und dringt ins Innere. Gewiß überbringt es einer der vielen anwesenden Juden oder auch einer der da und dort herumstehenden Pharisäer, Rabbis, Schriftgelehrten und Sadduzäer.

Jesus geht sehr langsam weiter, während alle anderen, die von überall herbeieilen, den Weg säumen, auf dem er dahinschreitet. Und da ihn niemand grüßt, grüßt auch er niemanden, so als ob er nicht viele der dort Versammelten kennen würde. Diese betrachten ihn mit zorn- und haßerfüllten Blicken, mit Ausnahme der Wenigen, die heimliche Jünger oder wenigstens rechtschaffenen Herzens sind, auch wenn sie ihn nicht als Messias lieben, und ihn als einen Gerechten achten. Diese sind Joseph, Nikodemus, Johannes, Eleazar, der andere Johannes, der Schriftgelehrte, den ich bei der Brotvermehrung gesehen habe, und ein dritter Johannes, der die Leute nach der Bergpredigt mit Nahrung versorgt hat; außerdem Gamaliel mit seinem Sohn, Josua, Joachim, Manaen, der Schriftgelehrte Joel des Abija, dem ich bei der Episode mit Sabäa am Jordan begegnet bin, Joseph Barnabas, der Schüler des Gamaliel, und Chuza, der Jesus von weitem betrachtet, etwas schüchtern, da er ihn nun nach dem begangenen Fehler wiedersieht; oder vielleicht verbietet ihm auch die Achtung vor den anderen, sich Jesus als Freund zu nähern. Tatsache ist, daß weder die Freunde und wohlgesinnten Beobachter, noch die Feinde ihn grüßen. Und auch Jesus grüßt niemanden. Er hat sich darauf beschränkt, beim Betreten des Gartenweges eine allgemeine Verneigung zu machen. Dann ist er weitergegangen, als ob er der ganzen Menge, die ihn umgibt, fremd wäre. Der kleine Junge läuft in seinem bäuerlichen Gewand und mit den nackten Füßen eines armen Kindes neben ihm her. Doch sein Gesicht strahlt wie an einem Festtag und seine lebhaften, schwarzen Augen sehen alles... und blicken alle herausfordernd an.

Martha kommt aus dem Haus inmitten einer Gruppe jüdischer Besucher, darunter Elchias und Sadok. Sie beschattet mit der Hand ihre vom Weinen müden Augen, die das Licht schmerzt, und blickt sich nach Jesus um. Nun sieht sie ihn, verläßt ihre Begleiter und eilt auf den Meister zu, der sich bis auf einige Schritte dem Wasserbecken genähert hat, das im Sonnenlicht glitzert. Sie wirft sich nach einer ersten Verbeugung Jesus zu Füßen, küßt diese und sagt, während sie in Tränen ausbricht: «Der Friede sei mit dir, Meister.»

Auch Jesus sagt, sobald er sie erblickt hat: «Der Friede sei mit dir!» und erhebt die Hand, um sie zu segnen, wobei er die des Kindes losläßt. Bartholomäus nimmt nun das Kind bei der Hand und zieht es etwas nach hinten.

Martha fährt fort: «Für deine Dienerin gibt es keinen Frieden mehr!» Noch kniend erhebt sie das Antlitz zu Jesus und mit einem Schmerzensschrei, den man in dem entstandenen Schweigen sehr laut hört, ruft sie aus: «Lazarus ist tot! Wärest du hier gewesen, wäre er nicht gestorben. Warum bist du nicht früher gekommen, Meister?» In dieser Frage liegt ein ungewollter Vorwurf. Dann spricht sie weiter mit der matten Stimme eines Menschen, der keine Kraft mehr hat, Vorwürfe zu machen, und seinen einzigen Trost darin findet, sich an die letzten Augenblicke und Wünsche eines Angehörigen zu erinnern, dem man alle Wünsche zu erfüllen versucht hat, weshalb man sich auch keine Vorwürfe zu machen braucht: «Er hat so sehr nach dir verlangt, unser Bruder... ! Sieh! Nun leide ich, und Maria weint und kann keinen Frieden finden. Er ist nicht mehr unter uns. Und du weißt, wie sehr wir ihn geliebt haben! Wir hatten unsere ganze Hoffnung in dich gesetzt... !»

Ein Flüstern des Mitleids für die Frau und des Vorwurfs für Jesus, und Zustimmung zu dem unausgesprochenen Gedanken: «Du hättest uns erhören können, denn wir haben es verdient durch unsere Liebe zu dir, doch du hast uns enttäuscht!» läuft von einer Gruppe zur anderen, begleitet von Kopfschütteln und hämischen Blicken. Nur die wenigen geheimen Jünger in der Menge werfen Jesus, der bleich und traurig der schmerzerfüllten Frau zuhört, mitleidvolle Blicke zu. Gamaliel steht ein wenig abseits inmitten einer Gruppe von Jünglingen, unter denen sich auch sein Sohn und Joseph Barnabas befinden. Die Arme über der Brust gekreuzt, in seinem weiten, reichen Gewand aus feinster Wolle mit blauen Fransen, schaut er Jesus fest an, ohne Haß und ohne Liebe.

Martha fährt fort, nachdem sie sich die Tränen abgetrocknet hat: «Aber auch jetzt hoffe ich noch, denn ich weiß, daß dir alles, was du vom Vater erbittest, gewährt wird.» Ein schmerzliches, heroisches Glaubensbekenntnis, das sie mit tränenerstickter Stimme ausspricht, während Angst in ihrem Blick zittert und die letzte Hoffnung ihr Herz erfüllt.

«Dein Bruder wird auferstehen. Erhebe dich, Martha!»

Martha steht auf, bleibt jedoch in verehrungsvoller, gebeugter Haltung vor Jesus stehen, dem sie antwortet: «Ich weiß, Meister. Er wird auferstehen am Jüngsten Tag.»

«Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er tot ist. Und wer glaubt und in mir lebt, wird in Ewigkeit nicht sterben! Glaubst du dies alles?» Jesus, der zuerst leise und nur zu Martha gesprochen hat, erhebt nun seine Stimme, um diese Worte zu sagen, mit denen er seine göttliche Macht bekundet, und der Wohlklang seiner Stimme hallt im weiten Garten wie der Schlag einer goldenen Glocke nach. Ein fast ängstlicher Schauder erfaßt die Umstehenden; dann aber fangen einige an, höhnisch zu lachen und die Köpfe zu schütteln.

Martha, der Jesus immer stärkere Hoffnung einflößen zu wollen scheint, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legt, erhebt ihr Antlitz, das zu Boden geneigt war. Sie schaut zu Jesus auf, heftet ihren schmerzerfüllten Blick auf seine strahlenden Augen, preßt die Hände auf die Brust und antwortet nun in erneuter, aber anders gearteter Erregung: «Ja, Herr, ich glaube es. Ich glaube, daß du Christus, der Sohn des lebendigen Gottes bist, der in die Welt gekommen ist, und daß du alles kannst, was du willst. Ich glaube. Nun will ich Maria verständigen.» Und sie entfernt sich rasch und verschwindet im Haus.

Jesus bleibt, wo er ist. Das heißt, er macht ein paar Schritte vorwärts und bleibt bei dem Beet stehen, das das Becken umgibt. Der Sprühregen des Wasserstrahles, den ein leichter Wind auf diese Seite neigt und der einem silbernen Federbusch gleicht, bedeckt Blätter und Blüten mit kleinen, funkelnden Tröpfchen. Es hat den Anschein, daß Jesus sich in die Betrachtung der unter dem Schleier dieses klaren Wassers schnellenden Fische verliert, die mit ihren Spielen dem von der Sonne bewegten wäßrigen Kristall silberne Punkte und goldene Reflexe aufsetzen.

Die Juden beobachten ihn. Sie haben sich unbewußt in zwei sehr verschiedene Gruppen geteilt. Auf einer Seite, Jesus gegenüber, stehen alle, die ihm feindlich gesinnt sind. Für gewöhnlich gespalten in ihrer sektiererischen Gesinnung, sind sie nun vereint, um Jesus zu bekämpfen. Auf seiner Seite, hinter den Aposteln, zu denen sich wieder Jakobus des Zebedäus gesellt hat, stehen Joseph, Nikodemus und die anderen ihm Wohlgesinnten. Etwas weiter entfernt, immer am gleichen Platz und in derselben Haltung, sehe ich Gamaliel. Allein. Denn sein Sohn und seine Schüler haben ihn alleingelassen und sich auf die beiden großen Gruppen aufgeteilt, um näher bei Jesus zu sein.

Mit ihrem üblichen Ruf: «Rabbuni!» und ausgestreckten Armen eilt Maria aus dem Haus auf Jesus zu und wirft sich ihm zu Füßen. Sie küßt sie laut schluchzend, und einige Juden, die bei ihr im Haus waren und ihr gefolgt sind, vereinen ihre Klagen von zweifelhafter Aufrichtigkeit mit den ihren. Auch Maximinus, Marcella, Sara, Noemi und alle Diener sind Maria gefolgt, und ein lautes, schrilles Klagen erfüllt nun den Garten. Mir scheint, daß niemand mehr im Haus geblieben ist. Martha, die Maria so heftig weinen sieht, weint nun ebenso.

«Der Friede sei mit dir, Maria! Steh auf! Sieh mich an! Warum dieses trostlose Weinen, wie jemand, der keine Hoffnung hat?» Jesus beugt sich über sie, um leise diese Worte zu sagen, während er Maria in die Augen blickt. Sie hat sich, vor ihm kniend, auf die Fersen gesetzt, streckt ihm flehend die Hände entgegen und kann vor Schluchzen nicht sprechen. «Habe ich dir nicht gesagt, daß du hoffen sollst wider alle Hoffnung, um die Herrlichkeit Gottes zu sehen? Hat sich denn dein Meister geändert, daß du Grund zu solcher Verzweiflung hast?»

Aber Maria begreift die Worte nicht, die sie schon auf die große, zu große Freude vorbereiten wollen nach so viel Leid, und sie ruft, endlich wieder ihrer Stimme mächtig: «Oh, Herr! Warum bist du nicht früher gekommen? Warum bist du so weit fortgegangen? Du hast doch gewußt, daß Lazarus krank ist! Wenn du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht gestorben! Warum bist du nicht gekommen? Ich mußte ihm doch noch zeigen, daß ich ihn liebe. Und er hätte leben müssen. Ich mußte ihm doch noch beweisen, daß ich im Guten ausharre. Ich habe meinen Bruder so sehr gequält! Und nun? Nun, da ich ihn hätte glücklich machen können, ist er mir entrissen worden. Du hättest ihn mir lassen können. Du hättest der armen Maria die Freude machen können, ihn trösten zu dürfen, nachdem sie ihm so viel Schmerz bereitet hat. Oh, Jesus! Jesus! Mein Meister! Mein Erlöser! Meine Hoffnung!» Und sie läßt sich wieder zu Boden fallen, die Stirn auf den Füßen Jesu, die Marias Tränen noch einmal waschen, und klagt: «Warum hast du das getan, o Herr? Hast du nicht an jene gedacht, die dich hassen und sich nun über das Geschehene freuen... Warum hast du das getan, Jesus?» Aber es liegt kein Vorwurf in der Stimme Marias, wie es bei Martha der Fall war, nur der Schmerz der Schwester, die zudem noch die Not der Jüngerin erleidet, das Ansehen Jesu in den Herzen so vieler geschmälert zu sehen.

Jesus, der sich tief hinuntergebeugt hat, um diese Worte zu hören, die mit dem Gesicht zum Boden geflüstert worden sind, richtet sich nun auf und sagt laut: «Maria, weine nicht! Auch dein Meister ist betrübt, weil sein treuer Freund gestorben ist... weil er ihn sterben lassen mußte...»

Oh, welch ein Grinsen und welch gehässige Schadenfreude auf den Gesichtern der Feinde Jesu. Sie glauben ihn besiegt und freuen sich, während die Freunde immer trauriger werden.

Jesus sagt noch lauter: «Ich aber sage dir: Weine nicht! Steh auf! Sieh mich an! Glaubst du, daß ich, der ich dich so sehr geliebt habe, dies ohne guten Grund getan habe? Kannst du glauben, daß ich dir diesen Schmerz unnötig zugefügt habe? Komm, wir wollen zu Lazarus gehen. Wo habt ihr ihn hingelegt?»

Jesus fragt weniger Maria und Martha, die, von immer stärkerem Schluchzen überwältigt, nicht sprechen können, als alle anderen, besonders jene, die mit Maria aus dem Haus gekommen sind und am allertraurigsten zu sein scheinen. Vielleicht sind es ältere Verwandte, ich weiß es nicht. Sie antworten Jesus, der sichtlich betrübt ist: «Komm und sieh!» und gehen in Richtung des Grabes, das am Ende des Obstgartens liegt, dort, wo der Erdboden uneben wird und die Kalkfelsen hervortreten.

Martha geht an der Seite Jesu, der Maria zum Aufstehen gezwungen hat und sie nun führt, da das viele Weinen ihre Augen trübt. Sie weist Jesus mit der Hand die Stelle, an der Lazarus liegt. Und als sie angekommen sind, sagt sie noch: «Hier ist es, Meister, hier haben wir deinen Freund beigesetzt», und zeigt auf einen Stein, der schräg vor dem Eingang der Gruft liegt.

Jesus ist auf dem Weg dorthin, von allen gefolgt, an Gamaliel vorübergegangen. Doch weder er noch Gamaliel hat gegrüßt. Gamaliel hat sich dann zu den anderen gesellt und ist wie alle strengen Pharisäer einige Meter vom Grab entfernt stehengeblieben, während Jesus mit den Schwestern, Maximinus und denen, die anscheinend Verwandte sind, ganz nahe herangegangen ist. Jesus betrachtet den schweren Stein, der als Türe dient und ein ebenso schweres Hindernis bildet zwischen ihm und dem toten Freund. Er weint. Das Weinen der Schwestern und auch das der Nahestehenden und Angehörigen wird stärker.

«Entfernt diesen Stein!» ruft Jesus plötzlich, nachdem er seine Tränen getrocknet hat.

Eine Bewegung des Erstaunens und ein Flüstern geht durch die Menge, die sich noch um einige Bewohner Bethaniens vergrößert hat, die in den Garten zu den übrigen Besuchern gekommen sind. Ich sehe einige Pharisäer, die sich an die Stirn greifen und den Kopf schütteln, als ob sie sagen wollten: «Er ist verrückt!»

Niemand befolgt den Befehl. Auch die Getreuesten schrecken zurück und zögern.

Jesus wiederholt seinen Befehl noch lauter und versetzt die Anwesenden in noch größere Bestürzung. Sie schwanken zwischen einander entgegengesetzten Gefühlen, einerseits dem Wunsch zu fliehen, und andererseits dem Wunsch, sich noch mehr zu nähern, um zu sehen, ungeachtet des Geruches, der aus dem Grab dringen wird, das Jesus zu öffnen gebietet.

«Meister, es ist nicht möglich», sagt Martha, die sich bemüht, die Tränen zurückzuhalten, um sprechen zu können. «Seit vier Tagen ist er schon unter der Erde, und du weißt, an welcher Krankheit er gestorben ist! Nur unsere Liebe konnte ihn pflegen... Nun riecht er gewiß schon viel stärker, trotz aller Salben... Was willst du sehen? Seinen verwesten Leib?... Es geht nicht... auch wegen der Verunreinigung durch die Zersetzung und...»

«Habe ich dir nicht gesagt, daß du die Herrlichkeit Gottes sehen wirst, wenn du glaubst? Entfernt diesen Stein. Ich will es!»

Es ist eine laute Kundgebung göttlichen Willens... Und ein unterdrücktes «Oh!» kommt aus den Mündern aller. Die Gesichter erbleichen. Einige zittern, als ob eisige Todeskälte sie umweht hätte.

Martha gibt Maximinus ein Zeichen, und dieser gebietet den Dienern, Werkzeuge zu holen, mit denen man den Stein entfernen kann.

Die Diener eilen fort und kommen mit Pickeln und starken Brecheisen zurück. Sie schlagen die glänzenden Spitzen der Pickel zwischen den Fels und die Grabplatte, nehmen dann statt der Pickel die Brecheisen, heben bedächtig den Stein, schieben ihn zur Seite und lehnen ihn vorsichtig an den Fels. Ein pestartiger Gestank dringt aus der dunklen Höhle und läßt alle zurückweichen.

Martha fragt leise: «Meister, willst du hinuntersteigen? Wenn ja, dann lasse ich Fackeln holen...» Aber sie erbebt bei dem Gedanken, dies tun zu müssen.

Jesus antwortet ihr nicht. Er erhebt die Augen zum Himmel, breitet die Arme in Kreuzform aus und betet mit lauter Stimme, jedes Wort betonend: «Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast! Ich wußte ja, daß du mich immer erhörst. Aber wegen der hier Anwesenden, wegen des ringsum stehenden Volkes habe ich es gesagt, damit sie glauben an dich, an mich und daran, daß du mich gesandt hast!»

Jesus verweilt noch einige Zeit in derselben Haltung. Er scheint in Ekstase zu sein, so verklärt ist er, während er lautlos noch andere geheime Worte des Gebetes oder der Verehrung spricht, ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, daß Jesus so übermenschlich erscheint, daß einem das Herz in der Brust erzittert, wenn man ihn ansieht. Es sieht aus, als ob sein Körper sich in Licht verwandeln, vergeistigen, größer werden und über der Erde schweben würde. Obwohl die Farben der Haare, der Augen, der Haut und der Kleider sich nicht verändern wie bei der Verklärung auf dem Tabor, als alles zu blendendem Licht und Glanz wurde, scheint Jesus Licht auszustrahlen und selbst Licht zu werden. Das Licht scheint ihn ganz einzuhüllen, besonders das zum Himmel erhobene, gewiß durch die Schauung des Vaters verzückte Antlitz.

Jesus steht eine Weile so da, dann kommt er wieder zu sich: der Mensch, aber nun angetan mit Macht und Majestät. Er begibt sich zur Schwelle des Grabes und streckt die Arme, die er bisher in Kreuzform und mit zum Himmel gekehrten Handflächen gehalten hat, nach vorne. Die Hände sind jetzt schon in der Höhle des Grabes und heben sich hell von deren Dunkel ab. Aus den Augen Jesu sprüht bläuliches Feuer, dessen wundertätiger Schein heute, in dieser stummen Schwärze, unerträglich ist, und mit mächtiger Stimme, mit einem noch lauteren Ruf als dem, mit welchem er auf dem See dem Sturm befahl, mit einer Stimme, wie ich sie bei keinem anderen Wunder gehört habe, ruft er: «Lazarus! Komm heraus!» Die Stimme hallt als Echo aus der Grabeshöhle wider und verbreitet sich dann durch den ganzen Garten, schallt von den Hügeln Bethaniens zurück, und ich meine, sie erreicht sogar die Hänge jenseits der Felder und kehrt von dort vielstimmig und nur etwas gedämpft wieder, wie ein unwiderruflicher Befehl. Von vielen Seiten hört man das Echo: «Heraus! Heraus! Heraus!»

Alle erschauern zutiefst, und wenn auch die Neugierde sie an ihre Plätze bannt, so sind doch die Gesichter bleich, die Augen weit offen, und die Münder öffnen sich unbewußt, während aus den Kehlen Rufe des Staunens dringen.

Martha, die etwas weiter hinten seitlich steht, schaut Jesus verzückt an. Maria fällt auf die Knie, sie, die nie von der Seite ihres Meisters gewichen ist, fällt am Eingang des Grabes auf die Knie. Eine Hand preßt sie aufs Herz, um sein heftiges Schlagen zu beruhigen, mit der anderen hält sie unbewußt und krampfhaft einen Zipfel des Mantels Jesu, und man merkt, daß sie zittert, denn eine leichte Erschütterung überträgt sich von der Hand auf den Mantel.

Etwas Weißes scheint aus der dunklen Tiefe der Höhle zu kommen. Erst ist es nur eine schmale geschweifte Linie, dann wird es ein Oval, und schließlich fügen sich dem Oval breitere und längere, immer länger werdende Linien an. Und der Tote in seinen Binden kommt langsam vorwärts, immer besser erkennbar, geisterhaft, beeindruckend.

Jesus weicht zurück, weiter zurück, fast unmerklich, doch fortwährend, je weiter Lazarus herauskommt, und so bleibt die Entfernung zwischen beiden immer dieselbe.

Maria ist gezwungen, den Zipfel des Mantels loszulassen, aber sie rührt sich nicht von der Stelle. Die Freude, die Erregung, alles zusammen hält sie an ihrem Platz fest.

Ein immer deutlicheres «Oh!» dringt aus den zuvor in gespannter Erwartung wie zugeschnürten Kehlen, und aus dem kaum hörbaren Flüstern werden laute Stimmen, aus den Stimmen mächtige Schreie.

Lazarus hat nun die Schwelle erreicht und bleibt dort stehen, steif und stumm wie eine Gipsstatue, die eben aus der Form kommt... Ein unförmiges, langes Etwas, am Kopf und an den Beinen dünn, am Rumpf etwas breiter, grausig wie der Tod selbst, geisterhaft in den weißen Tüchern vor dem dunklen Hintergrund des Grabes. Im Licht der Sonne scheinen die Bandagen da und dort schon von Fäulnis durchtränkt.

Jesus ruft laut:«Befreit ihn von den Binden und laßt ihn gehen. Gebt ihm Kleider und zu essen!»

«Meister... !» sagt Martha, und sie würde vielleicht mehr sagen, aber Jesus sieht sie fest an, unterwirft sie mit seinem flammenden Blick und spricht: «Hier! Sofort! Bringt ein Gewand! Kleidet ihn in Gegenwart aller an und gebt ihm dann zu essen!» Jesus befiehlt und beachtet die neben und hinter ihm Stehenden nicht. Er blickt nur auf Lazarus, auf Maria, die neben dem Auferstandenen steht und sich nicht um den Ekel kümmert, den die fleckigen Binden bei allen hervorrufen, und auf Martha, die keucht, als ob ihr das Herz zerspringen wollte, und nicht weiß, ob sie vor Freude schreien oder weinen soll...

Die Diener beeilen sich, die Befehle Jesu auszuführen. Noemi eilt als erste fort und kommt auch als erste zurück mit den über den Arm geworfenen Gewändern. Einige lösen die Enden der Bandagen, nachdem sie sich die Ärmel aufgekrempelt und die Gewänder geschürzt haben, damit sie nicht mit der durchsickernden Fäulnis in Berührung kommen. Marcella und Sara kommen mit Gefäßen voll wohlriechender Salben. Diener folgen ihnen mit dampfend heißem Wasser in Becken und Krügen, Bechern mit Milch und Wein, mit Obst und Honigkuchen.

Die schmalen, sehr langen Binden, mir scheint aus Linnen, mit Borten an beiden Seiten und sicher eigens für diesen Gebrauch gewoben, werden wie Bänder von einer großen Spule abgerollt und fallen schwer zu Boden, da sie von Essenzen und Fäulnis durchtränkt sind. Die Diener schieben sie mit Stöcken beiseite. Sie haben am Kopf begonnen, und auch dort ist Fäulnis, die wohl aus Nase, Ohren und Mund kommt. Das über das Gesicht gebreitete Schweißtuch ist naß von diesem Ausfluß, und das Antlitz des Lazarus, mit der Salbe auf den geschlossenen Augen, mit den verklebten Haaren und dem spärlichen Bärtchen am Kinn ist ganz und gar nicht schön. Langsam fällt das Leichentuch, das Grabtuch, das um den Körper gewickelt war, so wie auch die Binden immer weiter fallen, allmählich den seit Tagen eng umwundenen Rumpf freigeben und dem, was bisher einer großen Larve ähnlich war, wieder menschliche Gestalt verleihen. Die knochigen Schultern, die zum Skelett abgemagerten Arme, die kaum von Haut bedeckten Hüften und der eingefallene Leib kommen nach und nach zum Vorschein. Und so wie die Binden fallen, bemühen sich die Schwestern, Maximinus und die Diener, die dicke Schicht von Fäulnis und Salben zu entfernen. Und sie tun es so lange, mit immer wieder erneuertem Wasser, dessen reinigende Wirkung man durch hinzugefügte Essenzen verstärkt hat, bis die Haut vollkommen sauber ist.

Kaum ist sein Gesicht ausgewickelt und gereinigt, so daß er sehen kann, und noch bevor er die Schwestern ansieht, richtet Lazarus mit einem Lächeln der Liebe auf den blassen Lippen und einem feuchten Schimmer in den tiefliegenden Augen seinen Blick auf Jesus. Alles andere, was um ihn herum vorgeht, übersieht er und beachtet es nicht. Auch Jesus lächelt ihm zu, und Tränen glänzen in seinen Augen. Dann weist er wortlos zum Himmel, und Lazarus begreift und bewegt die Lippen in lautlosem Gebet.

Martha glaubt, daß Lazarus etwas sagen will, aber noch nicht dazu fähig ist, und fragt: «Was willst du mir sagen, mein Lazarus?»

«Nichts, Martha. Ich habe dem Allerhöchsten gedankt.» Seine Stimme ist klar und kräftig.

Das Volk stößt wieder ein erstauntes «Oh!» aus.

Nun haben sie Lazarus bis zu den Hüften ausgewickelt und gereinigt. Sie können ihm eine kurze Tunika überwerfen, eine Art Hemd, das über die Leisten hinabreicht und die Schenkel noch teilweise bedeckt.

Sie fordern ihn auf, sich zu setzen, um ihm die Beine auswickeln und waschen zu können. Als diese sichtbar werden, schreien Martha und Maria gleichzeitig auf und zeigen auf die Beine und die Binden. Auf den um die Beine gewickelten Binden und dem Linnen darunter sind die Absonderungen der Fäulnis so reichlich, daß sie kleine Rinnsale auf dem Stoff bilden, während die Beine vollkommen vernarbt zu sein scheinen. Nur die blaßroten Narben erinnern noch an die Geschwüre.

Alle Anwesenden schreien nun noch lauter vor Staunen. Jesus lächelt, und auch Lazarus, der einen Augenblick seine geheilten Beine betrachtet und sich dann wieder abwendet und Jesus ansieht, lächelt. Es scheint, als könne Lazarus sich nicht sattsehen an ihm. Die Juden, Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten und Rabbis treten vor, aber sehr vorsichtig, um ihre Gewänder nicht zu verunreinigen. Sie betrachten Lazarus und auch Jesus aus allernächster Nähe. Doch weder Lazarus noch Jesus kümmern sich um sie. Sie blicken einander an, und alles andere ist bedeutungslos.

Nun legt man Lazarus die Sandalen an. Er steht gewandt und sicher auf, nimmt das Gewand, das Martha ihm reicht, wirft es sich selbst über, befestigt den Gürtel und ordnet die Falten. Da steht er, mager und bleich, doch ein Mensch wie alle anderen. Er wäscht sich nochmals die Hände und die Arme bis zu den Ellenbogen, nachdem er die Ärmel zurückgeschlagen hat. Dann, mit frischem Wasser, erneut das Gesicht und den Kopf, bis er sich ganz sauber fühlt. Er trocknet das Haar und das Gesicht, gibt dem Diener das Handtuch zurück und geht geradewegs zu Jesus, um sich vor ihm niederzuwerfen und ihm die Füße zu küssen.

Jesus neigt sich zu ihm, richtet ihn auf, drückt ihn an sein Herz und sagt: «Willkommen, mein Freund! Der Friede und die Freude seien mit dir. Du sollst leben, und dein glückliches Los soll sich erfüllen. Erhebe dein Antlitz, damit ich dir den Willkommenskuß geben kann.» Und er küßt Lazarus auf die Wangen und Lazarus küßt ihn.

Erst nachdem Lazarus den Meister verehrt und geküßt hat, spricht er mit den Schwestern und küßt auch sie. Dann küßt er Maximinus und Noemi, die vor Freude weinen, und einige von denen, die ich für Verwandte oder intime Freunde halte. Schließlich küßt er auch Joseph, Nikodemus, Simon den Zeloten und noch einige mehr.

Jesus geht persönlich zu einem Diener, der ein Tablett mit Speisen auf den Armen hält, und nimmt einen Honigkuchen, einen Apfel und einen Becher Wein, die er, nachdem er sie aufgeopfert und gesegnet hat, Lazarus anbietet, damit er sich stärken kann. Und Lazarus ißt mit dem gesunden Appetit eines Menschen, der sich wohlfühlt. Alle stoßen wiederum ein überraschtes «Oh!» aus.

Es scheint, als ob Jesus nur Lazarus sähe, doch in Wirklichkeit beobachtet er alles und alle. Und als er sieht, daß Sadok, Elchias, Chananias, Felix, Doras, Cornelius und andere Miene machen, sich mit zornigen Gebärden zu entfernen, sagt er laut: «Warte einen Augenblick, Sadok! Ich muß dir etwas sagen. Dir und Deinesgleichen!»

Sie bleiben stehen und machen Gesichter wie ertappte Verbrecher.

Joseph von Arimathäa ist sichtlich bestürzt und gibt dem Zeloten ein Zeichen, Jesus zurückzuhalten. Aber er geht schon auf die haßerfüllte Gruppe zu und sagt ebenso laut: «Genügt dir, was du gesehen hast, Sadok? Eines Tages hast du mir gesagt, um an mich glauben zu können, müßtest du - du und Deinesgleichen - sehen, wie ein schon verwester Toter wieder ganz und gesund wird. Hast du genug Verwesung gesehen? Bist du imstande zu bekennen, daß Lazarus tot war und nun lebendig ist, so lebendig und gesund, wie er es seit Jahren nicht mehr gewesen ist? Ich weiß, ihr seid gekommen, um diese hier zu versuchen und ihnen noch größeren Schmerz zu bereiten, ihre Zweifel noch zu verstärken. Ihr seid gekommen in der Hoffnung, mich im Zimmer des Sterbenden versteckt zu finden. Ihr seid gekommen, nicht aus dem Gefühl der Liebe und dem Wunsch, den Verstorbenen zu ehren, sondern um euch zu vergewissern, daß Lazarus wirklich tot war. Und ihr seid immer wieder gekommen und habt immer mehr gejubelt, je mehr Zeit vergangen ist. Wenn es so gegangen wäre, wie ihr es euch erhofft habt, wie ihr nun glaubtet, daß es gehen würde, dann hättet ihr allen Grund zum Jubeln gehabt. Der Freund, der alle heilt, aber seinen Freund nicht heilt. Der Meister, der jegliches Vertrauen belohnt, aber nicht das seiner Freunde in Bethanien. Der Meister, dessen Ohnmacht sich vor der Wirklichkeit des Todes offenbart. Das war es, worüber ihr gejubelt habt. Aber nun hat Gott euch geantwortet. Kein Prophet konnte je auferwecken, was nicht nur tot, sondern schon verwest war. Gott hat es getan. Hier ist das lebendige Zeugnis dafür, wer ich bin. Es gab einen Tag, da Gott Lehm nahm, einen Leib formte und ihm den Lebensodem einhauchte, und der Mensch war erschaffen. Und ich habe damals gesagt: "Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis." Denn ich bin das Wort des Vaters. Heute habe ich, das Wort, zu dem, was noch weniger war als Lehm, was Verwesung war, gesagt: "Lebe!" und die Verwesung wurde wieder zu Fleisch, zu gesundem Fleisch, das lebt und pulsiert. Und es sieht euch an. Und dem Fleisch habe ich den Geist zurückgegeben, der schon seit Tagen in Abrahams Schoß ruhte. Ich habe ihn zurückgerufen durch meinen Willen. Denn ich vermag alles. Ich, der Lebendige, der König der Könige, dem alle Geschöpfe und Dinge unterworfen sind. Was habt ihr mir nun zu sagen?»

Jesus steht vor ihnen, hochgewachsen, in strahlender Majestät, wahrhaft Richter und Gott. Sie antworten nicht.

Jesus fährt fort: «Genügt euch das noch nicht, um zu glauben und das Unleugbare anzunehmen?»

«Du hast nur einen Teil deines Versprechens gehalten. Dies ist nicht das Zeichen des Jonas...» sagt Sadok herb.

«Ihr werdet auch dieses bekommen. Ich habe es versprochen und werde es halten», sagt der Herr. «Und auch ein anderer, der hier anwesend ist und auf ein Zeichen wartet, wird es erhalten. Und da er ein Gerechter ist, wird er es anerkennen. Ihr nicht. Ihr werdet immer bleiben, was ihr seid.»

Jesus dreht sich halb um und sieht den Synedristen Simon, den Sohn des Heli-Anna an. Er schaut ihm fest, sehr fest in die Augen, kehrt den vorigen den Rücken, und als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sagt er mit leiser, aber schneidender Stimme: «Dein Glück, daß Lazarus keine Erinnerung an seinen Aufenthalt unter den Toten hat! Was hast du mit deinem Vater gemacht, du Kain?»

Simon flieht mit einem Angstschrei, der dann in einem Fluch endet. «Sei verflucht, du Nazarener!» worauf Jesus antwortet: «Dein Fluch steigt zum Himmel, und vom Himmel des Allerhöchsten fällt er auf dich zurück. Du bist mit dem Mal gezeichnet, Unseliger!»

Jesus kehrt zu den verblüfften, beinahe erschrockenen Gruppen zurück und begegnet Gamaliel, der sich gerade zur Straße begibt. Er sieht ihn an und Gamaliel ihn. Ohne stehenzubleiben sagt Jesus: «Halte dich bereit, Rabbi. Das Zeichen wird bald erscheinen. Ich lüge nie.»

Der Garten leert sich langsam. Die Juden können es noch immer nicht fassen, doch die meisten glühen vor Zorn. Wenn ihre Blicke töten könnten, wäre Jesus längst tot. Sie reden und diskutieren im Fortgehen miteinander und sind so sehr durch die erlittene Niederlage verwirrt, daß sie es nicht mehr fertigbringen, den Zweck ihrer Anwesenheit hier hinter einer Maske der Freundschaft zu verbergen. Sie gehen, ohne Lazarus und die Schwestern zu grüßen.

Einige, die der Herr durch sein Wunder für sich gewonnen hat, bleiben noch da. Unter diesen ist Joseph Barnabas, der sich vor Jesus niederwirft und ihm huldigt. Dasselbe tut der Schriftgelehrte Joel, der Sohn des Abija, bevor er seines Weges geht. Und noch andere, die ich nicht kenne, die aber einflußreiche Persönlichkeiten sein müssen.

Lazarus hat sich inzwischen, von seinen intimsten Freunden umringt, ins Haus zurückgezogen. Joseph, Nikodemus und die anderen Guten verabschieden sich von Jesus und gehen. Mit tiefen Verbeugungen verabschieden sich die Juden, die Martha und Maria beigestanden haben. Die Diener schließen das Tor. Im Haus herrscht wieder Friede.

Jesus schaut um sich. Er sieht Feuerschein und Rauch am Rand des Gartens, dort, wo das Grab liegt. Allein auf einem Weg zurückgeblieben, sagt er: «Die Fäulnis, die vom Feuer vernichtet wird... die Fäulnis des Todes... Aber jene der Herzen... dieser Herzen, kann kein Feuer vernichten... Nicht einmal das Feuer der Hölle. Sie wird ewig währen... Welch ein Greuel... ! Schlimmer als der Tod... Schlimmer als die Verwesung... Und... Aber wer wird dich retten, o Menschheit, wenn du es so sehr liebst, verdorben zu sein? Du willst verdorben sein. Und ich... Ich habe mit einem Wort einen Menschen dem Grab entrissen... Und mit unzähligen Worten... mit einem Meer von Schmerzen kann ich den Menschen, die Menschen, Millionen Menschen, nicht der Sünde entreißen.» Jesus setzt sich und bedeckt sein Gesicht mit den Händen; er ist zutiefst betrübt...

Ein vorübergehender Diener sieht ihn. Er eilt ins Haus, und kurz darauf kommt Maria heraus. Sie geht zu Jesus mit lautlosen Schritten, als ob sie den Erdboden nicht berühre, nähert sich ihm und sagt leise: «Rabbuni, du bist müde... Komm, mein Herr! Deine müden Apostel sind in das andere Haus gegangen, mit Ausnahme von Simon dem Zeloten. Du weinst, Meister? Warum... ?»

Sie kniet zu Füßen Jesu nieder... und beobachtet ihn... Jesus schaut sie an. Er antwortet nicht, steht auf und geht, von Maria gefolgt, ins Haus.

Sie betreten einen Saal. Weder Lazarus noch der Zelote sind da. Doch Martha ist da, glücklich und vor Freude strahlend. Sie wendet sich Jesus zu und erklärt: «Lazarus nimmt ein Bad, um sich nochmals zu reinigen. Oh, Meister! Meister! Was soll ich sagen!» Sie betet ihn an mit ihrem ganzen Wesen. Dann bemerkt sie die Traurigkeit Jesu und sagt: «Du bist traurig, Herr? Bist du nicht glücklich, daß Lazarus...» Dann kommt ihr der Gedanke: «Oh, du bist meinetwegen so ernst! Ich habe gesündigt. Es ist wahr.»

«Wir haben gesündigt, Schwester», sagt Maria.

«Nein, du nicht! Oh, Meister... Maria hat nicht gesündigt. Maria hat zu gehorchen verstanden. Ich allein bin ungehorsam gewesen. Ich habe den Knecht gesandt, um dich rufen zu lassen, denn... denn ich konnte es nicht mehr mitanhören, wie sie behaupteten, daß du nicht der Messias seiest, der Herr... Und ich konnte dieses Leid nicht länger mitansehen... Lazarus hat so sehr nach dir verlangt. Er hat so oft nach dir gerufen... Verzeih mir, Herr.»

«Und du, Maria, sagst nichts?» fragt Jesus.

«Meister... ich... Ich habe nur als Frau gelitten. Ich habe gelitten, weil... Martha schwöre, schwöre hier vor dem Meister, daß du nie, niemals mit Lazarus über sein Delirium sprechen wirst... Mein Meister... In den letzten Stunden des Lazarus habe ich dich in deiner ganzen Größe erkannt, o göttliche Barmherzigkeit. Oh, mein Gott! Wie sehr hast du mich geliebt, du, der du mir vergeben hast, du, Gott, du, der Reine, du... wenn mein Bruder, der mich doch auch liebt, der aber ein Mensch, nur ein Mensch ist, mir im Grund seines Herzens nicht alles verziehen hat?! Nein, ich drücke mich schlecht aus. Meine Vergangenheit hat er nicht vergessen... Und als die Schwäche des Todes seine Güte, die ich für das Vergessen der Vergangenheit hielt, überwältigt hatte, schrie er seinen Schmerz und seine Verachtung für mich hinaus... Oh!...» Maria weint.

«Weine nicht, Maria. Gott hat dir verziehen und hat vergessen. Die Seele des Lazarus hat auch verziehen und vergessen, wollte vergessen. Der Mensch konnte nicht alles vergessen. Und als das Fleisch in seinem letzten Aufbäumen den geschwächten Willen überwältigte, hat der Mensch gesprochen.»

«Ich bin ihm deshalb nicht böse, Herr. Es hat mir geholfen, dich noch mehr zu lieben und auch Lazarus noch mehr zu lieben. Von diesem Augenblick an aber habe auch ich nach dir verlangt... denn die Angst, Lazarus würde meinetwegen nicht in Frieden sterben, war zu groß... Und danach, danach, als ich sah, daß die Juden über dich spotteten... als ich sah, daß du nicht einmal nach seinem Tod kamst, nicht einmal nachdem ich dir gehorcht und gehofft hatte über alle Hoffnung hinaus, nachdem ich gehofft hatte, bis das Grab geöffnet wurde, um ihn aufzunehmen, da hat auch mein Geist gelitten. Herr, wenn ich zu sühnen hatte, und gewiß hatte ich dies, so habe ich gesühnt, Herr...»

«Arme Maria. Ich kenne dein Herz. Du hast das Wunder verdient, und dies möge dich im Glauben und in der Hoffnung festigen.»

«Mein Meister, ich werde nun immer glauben und hoffen. Ich werde nie mehr zweifeln, nie mehr, Herr. Ich werde im Glauben leben. Du hast mir die Fähigkeit gegeben, das Unglaubliche zu glauben.»

«Und du, Martha? Hast auch du es gelernt... ? Nein, noch nicht. Du bist meine Martha, aber noch nicht meine vollkommene Anbeterin. Warum handelst du nur und betrachtest nicht? Das Betrachten ist heiliger. Siehst du? Deine Kraft, die sich zu sehr den irdischen Dingen zuwendet, hat dich im Stich gelassen angesichts der irdischen Tatsachen, für die es manchmal keine Hilfe zu geben scheint. Für die irdischen Probleme gibt es tatsächlich keine Hilfe, wenn Gott nicht eingreift. Das Geschöpf muß deshalb zu glauben und zu betrachten wissen, Es muß bis zum äußersten mit allen seinen menschlichen Kräften, mit den Gedanken, der Seele, dem Fleisch und dem Blut, zu lieben wissen. Ich wiederhole, mit allen Kräften, deren der Mensch fähig ist. Ich will dich stark, Martha. Ich will dich vollkommen. Du konntest nicht gehorchen, weil du es nicht verstanden hast, vollkommen zu glauben und zu hoffen; und du konntest nicht glauben und hoffen, weil du nicht vollkommen lieben konntest. Aber ich verzeihe dir. Ich spreche dich los, Martha. Ich habe heute Lazarus auferweckt. Nun gebe ich dir ein stärkeres Herz. Ihm habe ich das Leben wiedergegeben. Dir flöße ich die Kraft ein, in vollkommener Weise zu lieben, zu glauben und zu hoffen. Seid nun glücklich und im Frieden. Verzeiht allen, die euch in diesen Tagen gekränkt haben...

«Ja, Herr, hierin habe ich gefehlt. Vor kurzem sagte ich zu dem alten Chananias, der dich in den letzten Tagen verspottet hatte: "Wer hat nun gesiegt? Du oder Gott? Dein Spott oder mein Glaube? Christus ist der Lebendige und die Wahrheit. Ich wußte, daß seine Herrlichkeit noch wunderbarer erstrahlen würde. Und du, Alter, bessere und erneuere deine Seele, wenn du nicht den Tod kennenlernen willst"»

«Das hast du gut gesagt. Aber laß dich nicht mit den Bösewichtern ein, Maria. Verzeih, wenn du mich nachahmen willst... Da kommt Lazarus. Ich höre seine Stimme.»

In der Tat kommt Lazarus herein, in neuen Kleidern und die Wangen glatt rasiert, die Haare geordnet und duftend. Bei ihm sind Maximinus und der Zelote. «Meister!» Lazarus kniet wiederum in anbetender Haltung nieder.

Jesus legt ihm die Hand aufs Haupt und sagt lächelnd: «Die Prüfung ist bestanden, mein Freund. Für dich und die Schwestern. Seid nun glücklich und stark im Dienst des Herrn. An was erinnerst du dich von der Vergangenheit, mein Freund? Ich meine deine letzten Stunden...»

«Ich hatte großes Verlangen, dich zu sehen, und fand großen Frieden in der Liebe der Schwestern.»

«Und was hast du am meisten bedauert, auf Erden zurücklassen zu müssen?»

«Dich, Herr, und die Schwestern. Dich, weil ich dir nicht mehr dienen konnte, und sie, weil sie mir alles Glück geschenkt haben.»

«Oh, ich, Bruder!» seufzt Maria.

«Du mehr als Martha. Du hast mir Jesus geschenkt und den Maßstab für das, was Jesus ist. Und Jesus hat mir dich gegeben. Du bist ein Geschenk Gottes, Maria.»

«Das hast du auch im Sterben gesagt...» sagt Maria und betrachtet prüfend das Gesicht des Bruders.

«Es ist mein steter Gedanke!»

«Aber ich habe dir so viel Schmerz bereitet...»

«Auch die Krankheit hat Schmerzen bereitet. Doch dadurch hoffe ich, die Sünden des alten Lazarus gesühnt zu haben und zu einem neuen Leben, gereinigt und Gottes würdig, erstanden zu sein. Du und ich: die beiden, die auferstanden sind, um dem Herrn zu dienen... Und zwischen uns Martha, sie, die immer der Friede des Hauses gewesen ist.»

«Hörst du, Maria? Lazarus spricht Worte der Weisheit und der Wahrheit. Nun will ich mich zurückziehen und euch eurer Freude überlassen...»

«Nein, Herr, du bleibst bei uns. Hier. Bleibe in Bethanien und in meinem Haus. Es wird schön sein...»

«Ich werde bleiben. Ich will dich für alles entschädigen, was du gelitten hast. Martha, sei nicht traurig. Martha glaubt, sie hätte mich betrübt. Aber ich leide nicht euretwegen, sondern vielmehr deretwegen, die sich nicht bekehren wollen. Sie hassen immer mehr. Sie haben Gift im Herzen... Nun... wir wollen ihnen verzeihen.»

«Wir wollen ihnen verzeihen, Herr», sagt Lazarus mit seinem sanften Lächeln... und mit diesen Worten ist alles zu Ende.


Jesus sagt:
«Im Johannesevangelium, so wie man es jetzt seit Jahrhunderten liest, steht: "Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen" (Joh 11,30). Um möglichen Einwänden zuvorzukommen, möchte ich bemerken, daß zwischen diesem Satz und dem des vorliegenden Werkes, in dem es heißt, daß ich Martha wenige Schritte vom Wasserbecken im Garten des Lazarus entfernt traf, kein wirklicher Widerspruch besteht, sondern lediglich Übersetzung und Beschreibung unterschiedlich sind.

Bethanien gehörte zu drei Vierteln Lazarus, ebenso wie ein großer Teil Jerusalems ihm gehörte. Aber sprechen wir von Bethanien. Da es ihm zu drei Vierteln gehörte, konnte man sagen: Bethanien des Lazarus. Daher wäre der Text auch nicht falsch, selbst wenn ich Martha im Ort oder am Brunnen getroffen hätte, wie einige sagen wollen. Aber ich hatte tatsächlich das Dorf nicht betreten, um zu vermeiden, daß die Bewohner herbeieilen, die dem Synedrium alle feindlich gesinnt waren. Ich war hinten um das Dorf herumgegangen zum Haus des Lazarus, das genau am entgegengesetzten Ende liegt, wenn man von Ensemes nach Bethanien kommt.

Und deshalb sagt Johannes, daß Jesus den Ort noch nicht betreten hatte. Ebenso richtig sagt der kleine Johannes, daß ich am Wasserbecken stehengeblieben war (dem Brunnen für die Hebräer), das schon im Garten des Lazarus liegt, aber noch sehr weit entfernt vom Haus.

Ferner ist zu bedenken, daß die Schwestern während der Zeit der Trauer und der Unreinheit (der siebte Tag nach dem Tod war noch nicht gekommen) das Haus nicht verließen. Daher fand die Begegnung im Bereich ihres Besitzes statt.

Beachtet auch, daß der kleine Johannes berichtet, die Bewohner von Bethanien seien erst in den Garten gekommen, als ich schon anordnete, den Stein zu entfernen. Zuvor wußte man also in Bethanien nicht, daß ich dort war, und erst als die Nachricht sich verbreitete, kamen sie zu Lazarus.»